Ein Rathaus für die Welt

Rathaus für die Welt

Tief in uns endet die Herrschaft von Raum und Zeit

und die Stufen der Evolution verschmelzen zu einem Ganzen (Tagore, 1915).“

Caxton Hall (London)

Mitten in London, im Stadtbezirk Westminster, schrieb ein Gebäude Geschichte. Die meiste Zeit in seinen 128 Jahren war es ruhig in den Räumen und der großen Halle. Jedenfalls tagsüber …

Die Caxton Hall war ein Ort der Ideen und Veränderung, der Herausforderungen und kühner Visionen. Das einstige Regierungsgebäude und Rathaus spielte über die Jahre eine Doppelrolle: Standesamtliche Trauungen und Hochzeiten prominenter Persönlichkeiten fanden dort genauso statt wie Kundgebungen für Reformen und politische Aktionen. Es war eine dienstbare Einrichtung, umbenannt zu Ehren von William Caxton, des Erfinders der Druckerpresse in England, eines Schlüsselinstruments für die weltweite Kommunikation. Und im Gebäude mit Namen Caxton wurde tatsächlich sehr viel kommuniziert.

Revolutionäre Gedanken, Fragen und Appelle nahmen von hier ihren Ausgang. Der Ort war in vielerlei Hinsicht der Pulsschlag einer großen Nation - irgendwo zwischen dem politischen Theater im Parlament und dem exzentrischen und freien Zirkus der Speaker's Corner anzusiedeln.

Viele große Ideen und Bewegungen des 20. Jahrhunderts gelangten über die Caxton Hall auf die Weltbühne. Die Stimmen der Suffragetten, aber auch der heißen Verfechter des Sozialismus und der ersten panafrikanische Konferenz, in der es um die Nachwirkungen der Sklaverei ging, erschallten in diesen Räumen und rüttelten an ihren viktorianischen Fenstern. Ihr Klang drang mit Kraft und Gewalt auf die Straßen.

Sogar die Stimme des großen bengalischen Dichters und Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore war in der Caxton Hall zu hören. Seine gut besuchten Lesungen im Sommer 1913 hatten Titel wie "Die Beziehung des Individuums zum Universum", "Seelenbewusstsein", "Verwirklichung in Liebe" und "Das Problem des Selbst". Dies waren direkte Vorboten zu den Reden Shri Matajis am gleichen Ort ungefähr 70 Jahre später. Er zeigte die Themen auf. Sie ging ins Detail.

Zwischen 1977 und 1983 stand Shri Mataji fast hundert Mal auf der Bühne der Caxton Hall und hatte damit eindeutig eine neue Stufe ihres Wirkens erreicht: Sie sprach zu einer breiten Öffentlichkeit, wo alle eingeladen waren, ihre Worte zu hören. Der Eintritt war frei.

Ihre Reden standen in der Tradition von Tagore. Ihr Anliegen war echt und dringend und ihre Botschaft ähnlich. Und auch sie kam vom Osten in den Westen, um ein uraltes Wissen zu teilen.

 

Rabindranath Tagore (ca. 1915)

Einen Unterschied gab es jedoch zwischen den beiden Rednern der Caxton Hall: Shri Mataji Nirmala Devi präsentierte ihre Reden mit einem Bonus. Am Ende jeder Veranstaltung lud sie das Publikum zur Erfahrung der Selbst-Verwirklichung ein. In der Stille einer starken Meditation hatten die Besucher die Möglichkeit, ihre eigene Tiefe zu erleben. Beide sprachen von Innenschau, aber Tagores „Verwirklichung von Brahma“ war nun Shri Matajis „Erfahrung des wahren Selbst“.

Tagores

‚Verwirklichung von Brahma‘

war bei Shri Mataji die

‚Erfahrung des wahren Selbst‘.

Die Vorstellung eines spirituellen Lebens in London war genauso revolutionär wie einst die Suffragetten-Bewegung und das Bewusstsein einer afrikanischen Identität. Hier ging es nicht um bloße Unterhaltung. Die Menschen nahmen etwas mit nach Hause. Wenn ein Publikum bereit ist, zuzuhören – und zwar nicht nur kurz zwischen Werbung und Programmwechsel – ist Veränderung möglich. Neue Erkenntnisse, wie sie in der Caxton Hall vorgestellt wurden, können einer Gesellschaft eine neue Richtung geben. Für viele war die Veränderung, die sie spürten, fundamental. Ihre Weltsicht hatte sich grundlegend verändert.

Sechs Jahre hielt Shri Mataji in diesem historischen Gebäude immer wieder Vorträge vor unterschiedlich großem Publikum. Sie sprach über das Leben selbst, über aktuelle Ereignisse, Sinn und Werte, Moral und Liebe. Es war ein Rathaus für die Welt. Doch im Grunde ging es ihr immer um das höhere Bewusstsein. „Warum sind wir hier?", war eine der großen Fragen, die sie stellte. "Was ist der Sinn unseres Lebens? Warum hat Gott uns erschaffen?“ Und jeder dieser Abende schloss mit der Erfahrung ab, zu der diese Fragen auf ganz natürliche Weise hingeführt hatten. Wenn die Fragen der Zuschauer beantwortet waren, wurden sie eingeladen, sich mit ihrem höheren Bewusstsein zu verbinden und ihr wahres Selbst zu erkennen.

Diese Veranstaltungsreihe war in der Tat der Beginn von Shri Matajis öffentlichem Wirken in großem Stil. Sie betrat damit eine Bühne, zu der alle eingeladen waren, die von niemandem Geld verlangte und wo die Menschen das Wertvollste kostenlos und ohne Gegenleistung bekommen konnten.

In einer modernen Gesellschaft führen nur wenige Wege zum öffentlichen Erfolg. Kein Amt und kein Rednerpult garantieren, dass man Menschen erreicht, und schon gar nicht ihre Herzen.

Die Veröffentlichung von Memoiren, eine Talkshow im Frühstücksfernsehen, ein Musiktitel in den Charts – diese Ereignisse kommen und gehen. Menschen aber vollständig zu überzeugen braucht Zeit – auch weil die Öffentlichkeit immer neue Gesichter hat. Eine Halle in günstiger Lage zu mieten, keinen Eintritt zu verlangen, sich den Fragen und Sorgen des Publikums zu stellen und sich unter Menschen zu begeben, die nach Lebenssinn, Verständnis und innerem Frieden suchten, war ein Ausdruck grenzenloser Großzügigkeit. Shri Mataji stellte sich selbst und ihre Zeit ohne Vorbehalte zur Verfügung. Ihr Motiv war reine Liebe.

Sie selbst formulierte es 1980 so: „Die Suche hat begonnen und es werden viele Geschäfte damit gemacht. Doch hier handelt es sich nicht um ein Geschäft. Das hier ist ein Tempel und ein käuflicher Tempel ist nicht viel wert. Wenn man über sieben Berge zum Tempel klettern muss, ist das viel mehr wert. Doch das würden nur wenige überleben, und so musste der Tempel in die Londoner Caxton Hall kommen, um die Menschen zu erreichen.“

Es war eine Bewegung von unten. Die Einladung war persönlich und die Auswirkungen universell. Ihr Geschenk war für alle. Oft hörte man sie mitten in einer Rede rufen „Kommen Sie herein, setzen Sie sich. Hier ist noch ein Stuhl“, wenn sie jemanden verspätet hereinkommen sah. Diese Einladung galt für alle.

Shri Mataji in Bath (England, 1977)

Am 17. Juni 1913 sagte Rabindranath Tagore in den Mauern der Caxton Hall:

Die höchste Funktion der Liebe besteht darin,

alle Begrenzungen willkommen zu heißen

und sie zu transzendieren.

Er wusste, was Liebe ist, und konnte es in Worte fassen.

Auch Shri Mataji wusste es. Und sie setzte dieses Wissen in die Tat um.